Inhalt und Leseproben


Erhard Doubrawa

Vorwort des Herausgebers

(Leseprobe 1 - siehe weiter unten)

 

Abraham H. Maslow

Was Gipfelerlebenisse uns lehren

(Leseprobe 2 - siehe weiter unten)


David Steindl-Rast

Die Religion religiös machen

(Leseprobe 3 - siehe weiter unten)


Erhard Doubrawa

Nachwort


Anhänge


I. Gipfelerlebnisse in der Literatur. Ein Beispiel

II. Gipfelerlebnisse in der Therapie. Ein Beispiel

III. Raum für eigene Gipfelerlebnisse


Infos zum Buch:


gikPRESS 2021, Paperback, 104 Seiten, 9,90 EUR, eBook 6,99 EUR


Bitte unterstützen Sie unsere publizistische Arbeit indem Sie das Buch direkt (und versandkostenfrei) online bei BoD bestellen, wo unsere Buchreihe erscheint. Vielen Dank!

www.bod.de/buchshop/verbunden-trotz-abstand-abraham-h-maslow-9783752899351

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gikPRESS, Hunrodstraße 11, 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe



Leseprobe 1


Erhard Doubrawa (1)

Vorwort des Herausgebers


Dieses kleine Buch birgt eine Menge an Trost und Ermutigung – gerade in diesen außergewöhnlichen Zeiten von Corona. Wo schmerzhafter und leidvoller »sozialer Abstand« dazu beitragen soll, den Verlauf der Pandemie abzuschwächen, erinnert es uns daran, dass wir allesamt viel tiefer miteinander verbunden sind, als wir es oft annehmen.


Jede*r kennt und teilt eine besondere Art von Erfahrungen, die der amerikanische humanistische Psychologe Abraham H. Maslow als »mystische Erfahrungen« bzw. später als »Peak Experiences« (»Gipfelerlebnisse«) erforscht und beschrieben hat: Momente tiefer Verbundenheit, Momente von unbedingter Zugehörigkeit, Momente der Aufhebung allen Getrenntseins, Momente des Einsseins mit der Welt, Momente tiefsten Glücks.


Dieses kleine Buch birgt eine Menge an Trost und Ermutigung – nicht nur in diesen auftergewöhnlichen Zeiten von Corona. Auch dort, wo wir Zugehörigkeit durch hohe Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Forderungen meinen mühsam erwerben zu müssen, erinnert es uns daran, das wir eigentlich schon immer ein Teil des Ganzen waren und sind. Immer schon verbunden und zugehörig.


Bereits in den 1950er Jahren war Maslow diesen Erfahrungen bei der Erforschung von seelisch gesunden Menschen auf die Spur gekommen. Begeistert davon, forschte er weiter und entdeckte, dass Gipfelerlebnisse praktisch allen gemein sind, auch seelisch »kranken« Menschen. Im ersten Teil dieses Buches veröffentlichen wir seinen enthusiastischen Vortrag, in dem er Anfang der 1960er Jahre zum ersten Mal öffentlich davon berichtete.


Im zweiten Teil dieses Buches dokumentieren wir einen weiteren Vortrag, nämlich den Beitrag, mit dem der Benediktinermönch und Psychologe David Steindl-Rast Anfang der 1980er Jahre Maslows bahnbrechenden Entdeckungen zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. Einfühlsam und anschaulich stellt er diese gerade anhand des obigen Maslow-Vortrags vor. Und weiter spricht er darin über ihre Implikationen für die Erfrischung und Belebung des Religiösen in den Religionen.


Wie beglückend, tragend und verbindend die Erinnerung an unsere persönlichen Gipfelerlebnisse und das gemeinsame Gespräch darüber sein kann, konnten wir nachdrücklich auf einer von mir veranstalteten Online-Tagung im September 2020 erleben. Der Tagungstitel hat dem Buchtitel Pate gestanden: Verbunden trotz Abstand – Dialogische Gestalttherapie in den Zeiten von Corona. (2)


Ganz herzlich danken möchte ich an dieser Stelle Bruder David Steindl-Rast für seine spontane Zusage zu der Wiederveröffentlichung seines Vortrags, dem Herausgeber Rainer Kakuska für seine freundliche Genehmigung und Klaudia Menzi-Steinberger von der »Bibliothek David Steindl-Rast« (3) für ihre Unterstützung.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich eine berührende und bereichernde Lektüre!
Schließlich: Wenn Sie mir Ihre eigenen Gipfelerlebnisse mitteilen möchten, würde ich mich sehr darüber freuen. Weitere Informationen dazu finden Sie im Anhang dieses Buches. (4)


Erhard Doubrawa, Gestalttherapeut und Herausgeber der gikPRESS



Anmerkungen


(1) Erhard Doubrawa, 1955, Gestalttherapeut, Gründer und Leiter der GIK Gestalt-Institute Köln und Kassel, wo er auch als Ausbilder tätig ist (www.gestalt.de) und Herausgeber der Online-Gestalttherapie-Zeitschrift »Gestaltkritik« (www.gestaltkritik.de). In seinen privaten Praxen in Köln und in Kassel (www.erhard-doubrawa.com) arbeitet er mit Einzelnen, Paaren und Gruppen – auch als Supervisor und Coach. Außerdem edierter eine Buchreihe der Edition GIK / gikPRESS zur Theorie und Praxis der Gestalttherapie (www.gikpress.de). Buchveröffentlichungen von Erhard Doubrawa u. a. Die Seele berühren: Erzählte Gestalttherapie, sowie (gemeinsam mit Stefan Blankertz) Einladung zur Gestalttherapie: Eine Einführung mit Beispielen und Lexikon der Gestalttherapie.


(2) www.verbunden-trotz-abstand.eu


(3) www.bibliothek-david-steindl-rast.ch


(4) Liebe Leserinnen, liebe Leser, wenn Sie mir Ihre eigenen Gipfelerlebnisse mitteilen möchten, würde ich mich darüber sehr freuen: erhard.doubrawa@gikpress.de Vielleicht ergibt sich hieraus eine Online-Veröffentlichung oder evtl. sogar eine gedruckte – in die ich Ihre Zuschrift dann gerne (evtl. gekürzt) mit Nennung Ihres Vornamens und Ihres Alters aufnehmen möchte, falls Sie einverstanden sind. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir dafür leider kein Honorar zahlen können. Schon einmal vielen lieben Dank! Ihr Erhard Doubrawa, Herausgeber




Leseprobe 2


Abraham H. Maslow (1)

Was Gipfelerlebnisse uns lehren (2)


Übersetzt von Carola Tembrins


Worüber ich heute Abend sprechen werde, ist eine Erkundung der Psychologie der Gesundheit oder der besten Seite des Menschen. Ich berichte von einem Weg, von einer Aufgabe, die noch nicht vollbracht ist, eine Art Aufbruch ins Unbekannte, bei welchem ich mich wissenschaftlich sehr verletzlich gemacht habe. Das sei eine Warnung an jene unter Ihnen, die nach vollbrachten Aufgaben Ausschau halten. Diese ist noch nicht vollbracht.


Als ich die Psychologie der Gesundheit zu erforschen begann, nahm ich die besten, gesündesten Menschen, die besten Exemplare der Menschheit, die ich finden konnte, und studierte sie, um zu sehen, was sie auszeichne. Sie waren sehr anders, in gewisser Weise verwirrend anders als der Durchschnitt. Der Biologe hatte Recht, der bekannt gab, er habe das fehlende Bindeglied zwischen Menschenaffen und zivilisierten Menschen gefunden. »Das sind wir!« (3)


Von diesen Menschen lernte ich viel. Aber eins ist jetzt vor allem unser Anliegen. Ich fand heraus, dass diese Menschen dazu tendierten, von mystischen Erfahrungen zu berichten, von Augenblicken großer Ehrfurcht, Augenblicken des intensivsten Glücks oder sogar der Verzückung, Ekstase oder Glückseligkeit (weil das Wort »Glück« zu schwach sein kann, um diese Erfahrung zu beschreiben). Diese Augenblicke waren das reine, das positive Glück. Alle Zweifel, alle Ängste, alle Hemmungen, alle Spannungen, alle Schwächen wurden zurückgelassen. Sogar das Bewusstsein ihrer selbst verlor sich. Alle Getrenntheit und Entfernung von der Welt schwanden. Sie wurden eins mit der Welt, verschwammen mit ihr, gehörten ihr wirklich zu und an, statt außen vor zu bleiben und nur hineinzuschauen. (Eine Versuchsperson sagte zum Beispiel: »Ich fühlte mich wie das Mitglied einer Familie, nicht wie ein Waisenkind.«)


Vielleicht das wichtigste in diesen Erfahrungen war vor allem aber der Bericht über das Gefühl, dass sie wirklich die ultimative Wahrheit, das Wesen der Dinge, das Geheimnis des Lebens gesehen hätten, als wäre ein Schleier beiseite gezogen worden. Alan Watts hat dieses Gefühl als »Das ist es!« beschrieben, (4) als sei man endlich dort angekommen, als ob das gewöhnliche Leben angestrengt irgendwohin strebe und dies war die Ankunft, das »Being There«, das Ende der Anstrengung und des Strebens, die Erfüllung des Begehrens und der Hoffnung, die Antwort auf die Sehnsucht und das Seufzen. Jeder weiß, wie es sich anfühlt, etwas zu wollen und nicht zu wissen, was es ist. Diese mystischen Erfahrungen fühlen sich an wie die ultimative Antwort auf die vagen, unbefriedigten Seufzer. Sie sind wie ein plötzliches Stolpern in den Himmel; wie das Wunder, das geschehen ist, wie die schließlich erlangte Vollkommenheit. (5)


Dabei hatte ich hier schon etwas Neues gelernt. Das Wenige, was ich jemals über mystische Erfahrungen gelesen hatte, band sie an Religion mit ihren übernatürlichen Visionen. Und wie die meisten Wissenschaftler hatte ich sie ungläubig abgetan und hielt sie für Unsinn, möglicherweise für Halluzinationen, möglicherweise für Hysterie, fast immer für pathologisch.
Aber die Leute, die mir mündlich oder schriftlich von diesen Erfahrungen berichteten, waren nicht solche Menschen, sie waren die gesündesten Menschen! Da hatte ich etwas gelernt! Und ich darf hinzufügen, dass ich etwas erfuhr über die Grenzen des kleinen (nicht des großen) orthodoxen Wissenschaftlers, der Informationen nicht als Wissen oder als Realität anerkennt, die nicht in die bereits vorhandene Wissensstruktur passen. (»Ich bin der Direktor dieses Colleges; was ich nicht weiß, ist kein Wissen.«)


Diese Erfahrungen hatten meist nichts mit Religion zu tun, zumindest nicht im normalen übernatürlichen Sinne. Sie entstammten den großen Augenblicken von Liebe und Sex, den großen ästhetischen Augenblicken (insbesondere Musik), den Ausbrüchen von Kreativität und kreativem Furor (der großen Inspiration), den großen Augenblicken der Einsicht und der Entdeckung, bei Frauen dem Erleben einer natürlichen Geburt – oder der bloßen Liebe zu den Kindern, den Augenblicken der Verschmelzung mit der Natur (im Wald, an einer Küste, auf den Bergen, etc.), gewissen sportlichen Erfahrungen wie Schnorcheln, Tanzen, etc.


Die zweite große Lektion, die ich gelernt habe, lautete, dass dies eine natürliche, keine übernatürliche Erfahrung war, und ich gab die Bezeichnung »mystische Erfahrungen« auf und nannte sie »Gipfelerlebnisse«. Sie können wissenschaftlich untersucht werden. (Ich habe begonnen, dies zu tun.) Sie befinden sich innerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens, sind keine ewigen Geheimnisse. Sie befinden sich in der Welt, nicht außerhalb der Welt. Nicht bloß Priester machen sie, sondern die ganze Menschheit. Sie stellen nicht länger Gegenstände des Glaubens dar, sondern öffnen sich der menschlichen Erforschung und des menschlichen Wissens. Man beachte, in welcher Weise die Worte »Offenbarung«, »Himmel«, »Erlösung«, etc. einen auch natürlichen Sinn haben. Die Geschichte der Wissenschaften erzählt, dass die Wissenschaften den Geltungsbereich der Religion Stück für Stück an sich gerissen haben. Jetzt scheint das wieder zu geschehen. Oder, um das alles anders auszudrücken: Gipfelerlebnisse können als wahrhaft religiöse Erfahrungen im besten und tiefsten, universellsten und humanistischsten Sinne des Wortes gelten. Es kann sich herausstellen, dass die wichtigste Konsequenz aus dieser Arbeit darin besteht, die Religion in den Geltungsbereich der Wissenschaft eindringen zu lassen.


Die nächste große Lektion, die ich gelernt habe, war, dass Gipfelerlebnisse weitaus häufiger vorkommen, als ich jemals erwartet hatte: Sie waren nicht auf gesunde Menschen beschränkt. Diese Gipfelerlebnisse hatten auch durchschnittliche und sogar psychisch kranke Menschen. In der Tat vermute ich jetzt, dass sie bei praktisch allen auftreten, allerdings unerkannt oder nicht als das genommen, was sie sind.


Denken Sie für einen Augenblick daran, wie verrückt diese Erkenntnis in ihren Auswirkungen ist. Ich habe lange gebraucht, sie zu realisieren. Praktisch jeder berichtet von Gipfelerlebnissen, wenn auf sie angesprochen und befragt und in der richtigen Weise ermutigt wird. Ich habe auch gelernt, dass es reicht, darüber zu reden, wie ich es jetzt tue, um aus den Tiefen geheime Erinnerungen an Gipfel zu lösen, die man niemandem je zuvor enthüllte, vielleicht nicht einmal sich selbst gegenüber. Warum sind wir so schüchtern angesichts ihrer? Wenn uns etwas Wunderbares widerfährt, warum verschweigen wir es? Jemand wies einmal darauf hin: »Einige Leute haben Angst zu sterben, aber andere haben Angst zu leben.« (6) Vielleicht ist es das.


[Ende dieser Leseprobe]



Anmerkungen


(1) Abraham H. Maslow (1908-1970) lehrte am Brooklyn College in New York und dem Western Behavioral Science Institute in La Jolla/Kalifornien, leitete das Department of Psychology an der Brandeis University nahe Boston (Massachusetts). Von 1967 bis 1968 war er Präsident der American Psychological Association. Er war Fürsprecher der humanistischen dritten Kraft in der Psychologie und verfasste viele Fachbücher und Fachartikel. Insbesondere ist er durch die Entwicklung der Maslowschen Bedürfnispyramide und die Erforschung von Gipfelerlebnissen (Peak Experiences) bekannt geworden. In deutscher Sprache erschienen von ihm u.a »Psychologie des Seins: Ein Entwurf« und »Motivation und Persönlichkeit«.


(2) Öffentlicher Vortrag am 30. 6. 1961 in der Sherwood Hall, La Jolla, Kalifornien. Es handelt sich um die Transkription von gesprochenem, nicht um einen durchkomponierten Text. Dies war bei der Übersetzung zu berücksichtigen. – Peak experience wird im Deutschen meist mit Gipfelerfahrung wiedergegeben, aber auch als Grenzerfahrung, Gipfel- oder Höhepunkterlebnis. [AdÜ.] Deutsche Erstveröffentlichung in dem inzwischen vergriffenen Buch: Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker: Impulse für die seelische Ganzwerdung, herausgegeben von Erhard Doubrawa, Wuppertal 2014. – Please note the disclamer, S. 94.


(3) Englisch überliefert sind die Formulierungen»I have found the missing link between the higher ape and civilized man: It is we.« Maslow:»… he found the missing link between the anthropoidapes and civilized man. ›It’s us!‹« Und: »Man appears to be the missing link between anthropoid apes and human beings«, in dieser Form meist zitiert nach N. Y. Times Magazine vom 11. April 1965. Erste Erwähnung in »International Cooperation in Pure and Applied Science: Proceedings of the Seventh International Conference on Science and World Affairs«, 1961, S. 25. Deutsche Versionen: »Das längst gesuchte Bindeglied zwischen den Affen und dem wahrhaft humanen Menschen – sind wir!«
»Das fehlende Glied zwischen Affen und Mensch sind wir selbst.« Und:
»Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir!« Konrad Lorenz hat den Inhalt bestätigt in einem Spiegel-Interview (45/1988, S. 254):
»Sicher, es ist beleidigend für das ›Ebenbild Gottes‹, daß er das langgesuchte Zwischenglied zwischen dem Affen und dem Menschen ist; das ist er wirklich. Er hört furchtbar gern, er sei das Zentrum der Welt und der Zweck des Ganzen. Lange genug sind ihm ja auch so schmeichelhafte Dinge gesagt worden.« [AdÜ.]


(4) Alan Watts (1915-1973), ein englisch-amerikanischer Religionsphilosoph. Er befasste sich vor allem mit der Philosophie des Zen, des Buddhismus und des Taoismus. »This Is It« ist Titel einer Essaysammlung (1960) »on Zen and Spiritual Experience«. [AdÜ.]


(5) »If a man could pass through paradise in a dream, and have a flower presented to him as a pledge that his soul had really been there, and if he found that flower in his hand when he awoke, ay, what then!« [Samuel Taylor] Coleridge. [Aus: Anima Poetae from the Unpublished Note-Books of Samuel Taylor Coleridge (posthum 1895, S. 282). Dt. etwa: ›Wenn man das Paradies im Traume queren könnte und hätte eine Blume als Geschenk, das bewiese, die Seele wäre dort gewesen, und wenn sich beim Erwachen befände jene Blume in der Hand, ach, was dann!‹ Zusatz d. Ü.]


(6) »It’s lethargy that is the cause of so much evilness – some are scared to die, and some are scared to live.« Rev. William Sloane Coffin Jr., Seelsorger an der Yale University. (Fundstelle: Jet, Jg. XX, Nr. 24, 5. Oktober 1961, S. 30.) [AdÜ.]





Leseprobe 3


David Steindl-Rast (1)

Die Religion religiös machen (2)


Übersetzt von Jürgen Koch


Ich habe mir für diesen Nachmittag eine verhältnismäßig klar umrissene Aufgabe gestellt, und zwar möchte ich mit Ihnen drei Fragen untersuchen. Drei Fragen, die für unsere Diskussion, die in dieser Woche hier im Gange ist, ziemlich wichtig zu sein scheinen. Dabei ist die erste Frage bisher noch nicht wirklich gestellt worden, aber ich glaube, dass sie vielen Leuten im Kopf herumgeht. Wir haben über Religion und Spiritualität gesprochen, es kam jedenfalls immer wieder zur Sprache, und viele von uns fühlen sich einer bestimmten religiösen Tradition zugehörig. Und viele von uns, die sich einer bestimmten religiösen Tradition verbunden fühlen, haben gewisse Probleme mit dieser Tradition. Deshalb glaube ich, dass viele die Frage beschäftigt, was wir tun können, damit diese Religion wirklich religiös wird. Denn manches, was hier über Religion gesagt worden ist – so wahr es auch klingt – trifft nicht unbedingt auf unsere religiösen Traditionen, wie wir sie kennen, zu. Und wir wünschen, es wäre anders. Deshalb ist eine der Fragen, die ich untersuchen möchte die, wie wir die Religion wieder religiös machen können. Denn wir wissen aus Erfahrung, dass Religionen nicht notwendigerweise religiös sind. Sie neigen sogar dazu, unreligiös zu werden, wenn sie sich selbst überlassen bleiben.


Die nächste Frage, die mehr an der Oberfläche bleibt, ist die, in welcher Beziehung die verschiedenen Religionen zueinander stehen. Sie sehen hier immerhin Baker Roshi (3) neben einem Benediktinermönch sitzen, und Gopi Krishna (4) neben dem Dalai Lama (5) auch andere religiöse Traditionen sind hier noch vertreten. In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Und wie ist dieses Verhältnis zu sehen, sagen wir unter einem Gesichtspunkt, den jeder religiöse Mensch einnehmen kann, so dass wir uns nicht auf eine bestimmte Perspektive festlegen, sondern eine Betrachtungsweise finden, die allen gerecht wird, unabhängig davon, wo wir jeweils stehen.


Und die dritte Frage, auf die ich eingehen will, ist natürlich die Hauptfrage, die wir uns hier gestellt haben: Wie verhalten sich Religion und Wissenschaft zueinander, wie ist die Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft? Das ist natürlich die grundlegendste Frage.


Ich möchte unsere Unternehmung hier damit beginnen, dass ich auf Abraham Maslows Untersuchung des »Gipfelerlebnisses« verweise. Ich nehme zwar an, dass Abraham Maslow und seine Experimente zu dem, was er schließlich »Gipfelerlebnis« nannte, vielen von Ihnen bekannt ist. Aber ich werde das nicht voraussetzen, und zum Glück bin ich auf einen sehr prägnanten, kurzen Vortrag gestoßen, den Maslow 1961, ganz am Anfang seiner Karriere, gehalten hat und der ganz vom Enthusiasmus einer frühen Phase der Entdeckung getragen ist. (6) Ich werde deshalb einige Passagen daraus wiedergeben, die zeigen, wie Maslow 1961 über seine große Entdeckung der Gipfelerlebnisse gesprochen hat. Wir haben damit einen Ausgangspunkt, und durch das, was Maslow sagt, werden Sie sofort verstehen, wie sich das alles in das Bild hier einfügt. Und darauf werde ich dann aufbauen.


Ich beginne mit Maslow, weil ich glaube, dass seine Entdeckung des Gipfelerlebnisses eine der bedeutendsten Entdeckungen unserer Zeit ist, höchst bedeutsam für unsere Fragen hier und von spezieller Bedeutung für die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion. Maslow hatte sich die Aufgabe gestellt, das Phänomen der psychischen Gesundheit zu untersuchen. Das war sein grundlegender Ausgangspunkt. Und Maslow sagte, »wir haben in der Psychologie lange Zeit psychische Störungen untersucht und versucht, daraus Erkenntnisse über den Durchschnittsmenschen abzuleiten. Warum untersuchen wir nicht besonders gesunde Menschen und sehen, ob uns das vielleicht hilft, seelisch gesünder zu werden?« Ein sehr guter Ansatz für die Psychologie. Und im Folgenden gibt er eine sehr anschauliche Beschreibung davon. »Als ich begann, die psychische Gesundheit zu untersuchen, wählte ich die hervorragendsten und gesündesten Personen aus, die besten Exemplare der menschlichen Art, die ich finden konnte, und untersuchte ihre Eigenschaften. Sie waren sehr anders, in mancher Hinsicht überraschend anders als der Durchschnitt.« Er sagt: »Der Biologe hatte recht, der verkündete, dass er das fehlende Glied (missing link) zwischen den Menschenaffen und dem zivilisierten Menschen gefunden hätte: Das fehlende Glied sind wir.«
Und Maslow fährt fort: »Ich habe viele Lektionen von diesen Leuten gelernt«, – von diesen außergewöhnlich gesunden Menschen – »aber eine ist hier von besonderer Bedeutung: Ich fand, dass diese Menschen häufig berichteten, so etwas wie mystische Erlebnisse gehabt zu haben, Momente von tiefer Ehrfurcht, Momente intensivsten Glücks oder sogar der Verzückung, Ekstase oder Seligkeit. Ich sage Seligkeit, weil das Wort Glück manchmal zu schwach ist, um diese Erfahrung zu beschreiben. Jedes Getrenntsein und jede Distanz von der Welt waren verschwunden, als sie sich eins mit der Welt fühlten, mit ihr verschmolzen, ihr wirklich zugehörig, statt außerhalb zu stehen und hinein zu schauen. Einer sagte zum Beispiel: ›Ich fühlte mich als Mitglied einer Familie, nicht mehr als Waisenkind.‹« Sehr oft fühlen wir uns als Waisenkinder in der Welt, und auf einmal fühlen wir uns zuhause. Ich glaube, wir haben alle diese Erfahrung gemacht, die Erfahrung eines Augenblicks, in dem wir uns wirklich in der Welt zuhause fühlen. Das ist unter anderem eine der Bedeutungen dieses Gipfelerlebnisses. »Aber das Allerwichtigste bei den Berichten über diese Erfahrung war das Gefühl, dass sie wirklich die höchste Wahrheit gesehen hatten, das Wesen der Dinge, das Geheimnis des Lebens, als ob Schleier beiseite gezogen worden wären.« Alan Watts beschreibt dieses Gefühl so: »Das ist es! Das ist es!« Wir machen also diese Erfahrung und haben das Gefühl: Das ist es! Das, was wir schon immer sehen wollten.


Jeder kennt das Gefühl, etwas zu wollen und nicht zu wissen, was. Die mystischen Erfahrungen geben uns das Gefühl der absoluten Befriedigung von vagen und ungestillten Sehnsüchten. Plötzlich ist es da, und wir wussten nicht einmal wonach wir gesucht hatten. Aber hier hatte er bereits etwas Neues gelernt, sagt Maslow: »Das Wenige, das ich bis dahin über mystische Erfahrungen gelesen hatte, brachte sie mit Religion in Verbindung, mit Visionen des Übernatürlichen. Und wie die meisten Wissenschaftler hatte ich ungläubig die Nase darüber gerümpft und alles als Unsinn abgetan, als Halluzination oder Hysterie vielleicht, als höchstwahrscheinlich pathologisch. Aber die Menschen, die mir das erzählten oder über solche Erfahrungen schrieben, waren nicht pathologisch. Es waren die gesündesten Menschen, die ich finden konnte. Das war also eine Sache, die ich lernte. Und ich möchte hinzufügen, dass ich daraus etwas über die Beschränktheit des kleinen – nicht des großen – orthodoxen Wissenschaftlers lernte, der nichts als Wissen oder Realität anerkennt, was sich nicht in den Rahmen der bereits bestehenden Wissenschaft einfügt.« Nun, wir haben das große Glück, dass hier nur Wissenschaftler anwesend sind, die nicht von dieser beschränkten orthodoxen Art sind, von der Art, die Maslow mit diesem Reim charakterisiert:


I am the master of this college,

what I don’t know, that is not knowledge. (7)


Maslow beschreibt dann, was er außerdem bei seinen Experimenten lernte: »Diese Erfahrungen hatten meistens nichts mit Religion zu tun, jedenfalls nichts mit Religion im üblichen Sinn, mit Übernatürlichem.« Nun, ich habe wirklich einige Zeit mit religiösen Dingen zugebracht, und ich bin glücklicherweise nicht auf diese übernatürliche Auffassung gestoßen. Aber offensichtlich gibt es viele Leute, die in dieser Art über Religion denken. Und dann haben diese Gipfelerlebnisse tatsächlich überhaupt nichts damit zu tun. »Sie traten in groften Augenblicken von Liebe und Sex auf, bei großen ästhetischen Eindrücken, besonders in der Musik, bei der Freisetzung von Kreativität und kreativer Begeisterung, der großen Eingebung, in großen Momenten der Einsicht und des Entdeckens, bei Frauen, wenn sie ihre Babys auf natürliche Weise zur Welt brachten oder einfach, wenn sie sie liebten, in Augenblicken des Verschmelzens mit der Natur, im Wald, am Strand, auf einem Berg usw., bei bestimmten sportlichen Aktivitäten, beim Tauchen, Skifahren, Tanzen usw. Und so war die zweite große Lektion, dass es sich dabei um eine natürliche und nicht um eine übernatürliche Erfahrung handelte. Ich gab also den Begriff ›mystische Erfahrung‹ auf und nannte es nun ›Gipfelerlebnis‹.« Ich habe den Verdacht, dass ein weiterer wichtiger Grund dafür, den Begriff »mystische Erfahrung« fallen zu lassen, darin bestand, dass er einem Wissenschaftler nicht sehr gut ansteht. Spricht man stattdessen vom »Gipfelerlebnis«, dann ist es etwas leichter zu schlucken, die Pille ist versüßt. Wie auch immer – Maslow nannte sie nun nicht mehr mystische Erfahrungen, sondern Gipfelerlebnisse. »Sie können wissenschaftlich untersucht werden. Ich habe damit begonnen«, sagt er. »Sie sind dem menschlichen Wissen zugänglich.« Und dann vollzieht er eine Wendung und sagt etwas sehr Interessantes:


»Oder um es anders zu sagen – Gipfelerlebnisse können als wahrhaft religiöse Erfahrungen betrachtet werden im besten, umfassendsten und zutiefst humanistischen Sinn dieses Wortes.« Das verstehe ich unter Religion. »Und es könnte sich herausstellen«, sagt Maslow, »dass das wichtigste Ergebnis dieser Arbeit darin besteht, die Religion der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich zu machen.« Und genau das hat Maslow mit seinen Experimenten und mit seiner Forschungsarbeit getan. Er brachte die Religion in die Wissenschaft ein. Aber nun zeigt sich, dass die Wissenschaft sich damit etwas einverleibt hat, das sie von innen heraus verändert hat. Und ich meine, ein gutes Stück von dem, was wir hier (8) als völlig veränderte Einstellung der Wissenschaft erfahren haben, kommt genau daher, dass sich die Wissenschaft die Religion einverleibt hat.


»Die nächste grofte Lehre war, dass Gipfelerlebnisse weit verbreiteter sind, als ich je angenommen hatte. Sie kamen nicht nur bei gesunden Menschen vor. Gipfelerlebnisse traten auch bei durchschnittlichen und sogar bei psychisch kranken Menschen auf. Ich vermute jetzt, dass sie tatsächlich bei praktisch jedermann auftreten, auch wenn sie nicht als das erkannt und akzeptiert werden, was sie sind.« Und weitere Forschungsarbeit überzeugte Maslow davon, dass sie, soweit man das aus einer begrenzten Anzahl von Versuchen extrapolieren kann, bei jedem Menschen vorkommen. Diese Gipfelerlebnisse hat also jeder von uns, aber nicht jeder akzeptiert sie, nicht jeder lässt sie zu. Maslow studierte sogar, welche Art von Personen wahrscheinlich nicht einmal zugeben wird, solche Gipfelerlebnisse gehabt zu haben. Es sind dies Menschen, die ein sehr starkes Bedürfnis fühlen, alles streng unter Kontrolle zu halten. Wenn wir das Bedürfnis haben, alles streng unter Kontrolle zu halten, dann werden wir nicht gerne von unseren Gipfelerlebnisse sprechen, und manchmal haben Leute zu Maslow gesagt: »Oh, ich habe das nie jemandem erzählt. Ich dachte, ich sei da vorübergehend verrückt gewesen.« Und Maslow gibt zu bedenken, dass es statt einer vorübergehenden krankhaften Anwandlung vielleicht der einzige klare Augenblick war, den diese Person je hatte. »Denn«, sagter, »es ist nicht leicht, das Verhältnis zwischen Gipfelerlebnissen und den typischen mystischen Erfahrungen zu bestimmen. In welchem Verhältnis sie wirklich zueinander stehen, weßt ich nicht; ich kann nur vermuten, dass zwischen ihnen nur ein gradueller Unterschied besteht und kein substantieller. Die vollkommene mystische Erfahrung, wie sie immer wieder beschrieben wird, wird durch mehr oder weniger intensive Gipfelerlebnisse im groß en und ganzen erreicht.« Und das bedeutet, dass wir alle Mystiker sind. Der Mystiker ist kein Mensch besonderer Art, sondern jedes menschliche Wesen ist ein Mystiker besonderer Art. Und wir täten gut daran, uns dieser Herausforderung zu stellen.


[Ende dieser Leseprobe]



Anmerkungen


(1) David Steindl-Rast (1926) studiert Kunst und Anthropologie und promovierte in Psychologie. 1953 trat er einem kontemplativen Zweig des Benediktinerordens in den USA bei. Ihm ist es unter anderem durch seine Erfahrung mit Zen-Buddhismus gelungen, Brücken zwischen christlicher Spiritualität und östlicher Weisheit zu schlagen; durch sein interdisziplinäres, soziales Engagement trägt er zu Verständnis und Frieden auf der Welt bei. Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache u.a. »Fülle und Nichts: Die Wiedergeburt christlicher Mystik«, »Die Achtsamkeit des Herzens« und (gemeinsam mit Fritjof Capra) »Wendezeit im Christentum«. www.gratefulness.org


(2) Vortrag auf der Konferenz Andere Wirklichkeiten: Die Konvergenz neuer Naturwissenschaften und alter spiritueller Traditionen, die 1983 in Alpbach (Tirol) stattfand und an der u. a. auch S. H. der XIV. Dalai Lama, Richard Baker-Roshi, Joachim E. Berendt, Morris Berman, David Bohm, Fritjof Capra, Gopi Krishna, Rupert Scheldrake, William I. Thompson und Francisco Varela mitwirkten. Dt. Erstveröffentlichung in: Rainer Kakuska (Hg.), Andere Wirklichkeiten: Die neue Konvergenz von Naturwissenschaften und spirituellen Traditionen, München 1984: Dianus-Trikont, S. 193-204. Die Wiederveröffentlichung hier an dieser Stelle erfolgt mit der freundlichen Genehmigung von David Steindl-Rast und des Rechteinhabers Rainer Kakuska. [Hg.]


(3) Zentatsu Richard Baker Roshi (1936) ist amerikanischer Soto-ZenMeister, Gründer und leitende Lehrer von Dharma Sangha, der aus dem Crestone Mountain Zen Center in Crestone, Colorado, und dem buddhistischen Studienzentrum im Schwarzwald besteht. Zen-Lehrer in der Lehrlinie von Dongshan und Shunryu Suzuki Roshi. Er trat im Jahre 1971 die Dharma-Nachfolge von Suzuki Roshi an. Seit Anfang 2019 gibt er keine formellen Seminare mehr, steht aber zum Dharma-Austausch im Rahmen der »Door Step Zen«-Tage zur Verfügung. [Hg.]


(4) Gopi Krishna Shivpuri (1903-1984) war indischer Yogi, Mystiker, Gelehrter und Autor. Nachdem er mit 34 Jahren ein Erwachen der Kundalini-Kraft erlebt hatte, begann er sich für die systematische Erforschung des Kundalini-Phänomens zu engagieren. [Hg.]


(5) Tenzin Gyatso (1935) ist der 14. Dalai Lama, buddhistischer Mönch und Linienhalter der Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus. [Hg.]


(6) Gemeint ist der Vortrag, der in diesem Buch unter dem Titel »Was Gipfelerlebnisse uns lehren« dokumentiert ist. [Hg.]


(7) Ich bin der Chef dieser Hochschule. Was ich nicht weift, das ist kein Wissen.


(8) auf dieser Tagung [Hg.]



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